Donnerstag, 1. September 2011


Das Goldstück

Es lebte einst eine arme Familie in einem bescheidenen Häuschen am Rande einer kleinen Stadt in einfachsten Verhältnissen.

Der Mann betrieb im Erdgeschoss eine kleine Schuhmacherei, die jedoch nicht viel einbrachte, denn von den wenigen Schuhreparaturen, die er ab und zu in Auftrag bekam, konnten sie weder reich werden, noch die notwendigen Ausbesserungen an ihrem Häuschen erledigen. Neue Schuhe konnte sich in dieser Gegend kaum einer leisten.

Die Frau versponn Wolle von Flachs, das am anderen Ende des Städtchens wuchs und verdiente so einen kleinen Batzen dazu. Wenn es das Wetter zuließ, arbeitete sie draußen auf dem Bänkchen vor dem Häuschen sitzend. Das Kopfsteinpflaster neben der Straße reichte bis vor die Haustüre. Kein Zaun war dazwischen und so war es ihr möglich, sich ab und zu mit einem der wenigen Menschen, die hier vorüberzogen, zu unterhalten.

So lebten die beiden bescheiden, aber glücklich und viele Jahre zogen ins Land. Die Freude war sehr groß, als endlich ihr größter Wunsch in Erfüllung ging und die Frau einen gesunden Jungen gebar. Just an diesem Tag, als die Aufregung am größten war, hielt ein Wagen vor ihrem Häuschen. Ein nobler, junger Herr stieg aus und verlangte ein neues Paar Schuhe aus dem besten und teuersten Material, was nur aufzutreiben war. Der Schuster war sichtlich unruhig und als ihn der noble Herr nach dem Grund dieses Verhaltens ausfragte, erzählte er ihm von der Geburt seines ersten und einzigen Sohnes.

Nachdem der Schuster das Maß für die Schuhe genommen hatte und das Modell besprochen war, zog der Herr einen Lederbeutel aus seiner Rocktasche und reichte dem Schuster eine große Goldmünze mit den Worten: „Für deinen Sohn ist diese Münze bestimmt. Sie soll ihn eines Tages reich machen und Glück soll ihm beschieden sein. Den Preis der Schuhe wollen wir bestimmen, wenn sie fertig sind.“

Ehe der Schuster etwas erwidern konnte, war der noble Herr samt seinem Wagen verschwunden.

Nach wenigen Wochen waren die schönsten Schuhe, die unser Meister je hergestellt hatte, fertig. Wunderschön waren sie geworden, Zeugen von der Freude, einen Sohn geschenkt bekommen zu haben. Nur, die Schuhe wurden nicht abgeholt. Nicht nach einem Monat, nein, auch nicht nach einem Jahr. „Nun ja“, sagte sich der Schuster. „Wir wurden ja mehr als belohnt. Ein Junge, so lieb und schön und ein großes Goldstück. Das ist viel mehr, als und eigentlich zustehen würde.“

So lebten sie weiter in großer Armut, aber glücklich und zufrieden. Das Häuschen wurde von Jahr zu Jahr baufälliger, überall zog und regnete es hinein. Die kaputten Fenster und das löchrige Dach konnten nur notdürftig repariert werden. Sie hegten und pflegten den kleinen Jungen, der allmählich zu einem hübschen Burschen heranwuchs. Von seinem Vater erlernte er das Handwerk des Schuhmachers. Als es an der Zeit war, dass der junge Mann auf Wanderschaft gehen musste, um seinen Meisterbrief zu erwerben, kehrte große Trauer in die Familie ein. Denn nicht nur die Eltern empfanden großen Schmerz bei der Trennung, nein, auch ihr Sohn war von Trauer erfüllt.

Beim Abschied gab ihm sein Vater das große Goldstück, mit den Worten: „Diese Münze ist für dich bestimmt. Sie soll dich eines Tages reich machen und Glück soll dir beschieden sein. Dies meinte vor vielen Jahren ein junger nobler Herr, der die Schuhe bestellt hat, die noch immer hier im Schrank stehen und darauf warten, dass sie abgeholt werden.“ Die Münze gut verstaut und das Bündel geschnürt, zog der Junge in die weite Welt hinaus, mit Tränen in den Augen, aber Liebe im Herzen. Liebe zu seinen Eltern, die er zurücklassen musste. Die Eltern standen eng umschlungen, ebenfalls weinend, aber winkend vor ihrem Häuschen. „Da geht nun unser Goldstück, unser liebstes Kind in die Welt hinaus. Möge es beschützt sein auf seiner großen Reise und glücklich, wie auch gesund nach Hause zurückkehren.“

Ja, glücklich und gesund kehrte er nach vielen Jahren zurück an diesen nun so  traurigen Ort. Denn das, was er von seinem alten Häuschen, seiner einstigen Heimat, vorfand, war nur mehr eine Ruine. Mutter und Vater waren vor Trauer und Kummer über den Wegzug ihres über Alles geliebten Sohn verstorben.

Nichts Brauchbares mehr fand er im und ums Haus vor, außer in der Werkstatt, da fand er im kleinen Schrank verstaubte, aber neue Schuhe. Und in seinem bescheidenen Reisegepäck befand sich nebst seinem Meisterbrief auch immer noch das Goldstück, das sein Vater ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Liebevoll war in ein altes Taschentuch eingewickelt. „Diese Münze ist für dich bestimmt. Sie soll dich eines Tages reich machen und Glück soll dir beschieden sein. Dies meinte vor Jahren ein nobler Herr, der bei mir die Schuhe bestellt hat, die noch immer hier im Schrank stehen und darauf warten, abgeholt zu werden“, hörte er ganz deutlich seinen Vater erzählen.

Mit Tränen in den Augen saß er auf dem wackligen Bänkchen vor dem Häuschen, welches einst seine Heimat, sein Elternhaus gewesen war und nun nur noch eine Ruine voller Erinnerungen darstellte. Wie gerne hätte er seinen geliebten Eltern von seiner Reise erzählt. Ihnen stolz seinen Meisterbrief vorgeführt, das Goldstück dem Vater gezeigt, mit den Worten: „Schaut her, es hat mich all die lange Zeit glücklich gestimmt, reich gemacht. Reich an Erfahrung, reich an Liebe, reich in Herz und Seele und gutes Geld habe ich auch noch verdient und für euch aufgespart.“ Ja, genau dies wollte er ihnen sagen, und dass er sie über alles lieb habe, auch das wollte er ihnen sagen. Und dass er ihnen dankbar war, dass er all das erleben hatte dürfen, dass sie ihn glücklich gemacht hatten. Und nun?

In diese Gedanken versunken bemerkte er den Wagen nicht, der vorgefahren war. Ein alter, nobler Herr in Begleitung einer jungen, schönen Frau mussten schon längere Zeit vor ihm gestanden haben. „Guten Tag“, sagte die Dame zu ihm. „Ist das nicht die Schuhmacherei, in der mein Vater vor vielen Jahren Schuhe herstellen ließ, die er nie abgeholt hat?“ Erstaunt schaute er die beiden an und verstand nicht, was die Dame da zu ihm sagte. „Hier, ja, hier ist es gewesen. Den Boden, den erkenn ich. Diese Kopfsteine“, sagte der Herr mit schwacher Stimme. ´Ja, die verstaubten Schuhe im Schränkchen´ ging ihm nun plötzlich durch den Kopf. Wie im Traum ging er und ohne ein Wort zu sprechen ins Häuschen zu dem kleinen Schrank, holte die neuen, verstaubten Schuhe heraus und stellte sie auf das Bänklein. Er nahm das Taschentuch, in dem das Goldstück eingewickelt war, hervor und polierte damit die Schuhe, dass sie glänzten wie das Goldstück, das eben aus dem Taschentuch fiel und auf den Boden mit einem leisen, hellen Klang aufschlug.

Der alte Herr nahm tastend und suchend das Goldstück vom Boden auf und betrachtete eine Weile die Münze – nein, nicht mit seinen trüben Augen – er betastete sie mit den Fingerspitzen beider Hände. Ein Lächeln umspielte seinen Mund, seine Augen begannen trotz der Stumpfheit zu leuchten. „Ja, jetzt bin ich mir ganz sicher. Dieses Goldstück schenkte ich dem Meister zur Geburt seines Sohnes, dass er es ihm aufhebe. >Für deinen Sohn ist diese Münze bestimmt. Sie soll ihn eines Tages reich machen und Glück soll ihm beschieden sei<, das habe ich ihm damals gesagt.“ Eine Träne kullerte ihm über die linke Wange, die ihm die junge Dame zärtlich mit ihrem Daumen wegwischte.

Nun hatte unser junger Schuhmachermeister auch verstanden, wer der noble Herr, der erblindet zu sein schien, war. Er gab sich als Sohn dessen zu erkennen, der diese Schuhe anfertigte und für ihn damals die Münze hütete, bis er zur Erlangung des Meisterbriefs von zu Hause auszog. „Hier, Eure Schuhe, werter Herr.“ Der noble Mann streckte dem Jungen das Goldstück entgegen. „Hier, junger Mann. Euer Goldstück.“ Er nahm die Schuhe an sich, betastete und befühlte sich, roch an ihnen und nickte anerkennend. „Ausgezeichnete Arbeit, ob sie mir wohl passen?“. Und ob sie noch passten. Große Freude überkam ihn. „Ausgezeichnet...ausgezeichnet...!“ Immer wieder dieses Wort murmelnd, während ihn die junge Dame zur Straße und zurück führte ihn. „Ja, ausgezeichnet! Nun müssen wir nur noch über den Preis sprechen, junger Mann.“ „Nein nein, mein Herr. Dieses Goldstück war mehr als das, was diese Schuhe kosten würden. Diese Münze brachte unserem bescheidenem Heim Glück. Wohl keinen Wohlstand, aber Glück und Liebe für unsere Familie. Und sie machte mich reich. Reich an Erfahrung und glücklich. Und so sollen nun diese Schuhe auch Euch glücklich machen, mein Herr.“

Dass die hübsche, junge Dame und der junge Bursche sich gefunden haben und sich ineinander verliebten, muss ich wohl den geneigten Lesern und Leserinnen nicht weiter erzählen, dass haben sie sicher längst gespürt. Macht euch nun selbst ein Bild davon, wie diese Geschichte weiterging…

Glück und Liebe soll diesem jungen Paar verheißen sein, ein Leben lang.


Hans-Peter Zürcher

4 Kommentare:

Rosanna Maisch hat gesagt…

Lieber Hans-Peter,

ein grossartiges Märchen, ergreifend und schön zugleich. Ein kleines Meisterwerk aus deiner Feder!

Herzlichst Deine Lyrikfreundin Rosanna

HANS-PETER ZÜRCHER hat gesagt…

Liebe Rosanna,

ich darf Dich in meinem neuen Märchen-Blog als ertse treue Leserin bergüssen, was mich sehr freut und ehrt.

Vielen herzlichen Dank für deine wunderbare Rezension zu meinem Werklein!

Liebe Grüsse Dir

Dein Lyrikfreund Hans-Peter

Angela Häring-Christen hat gesagt…

Voller Liebe, aber auch traurig, weil der Sohn seine Eltern nicht mehr gesehen hat.
Jetzt will ich gleich noch dein nächste Märchen lesen.
Herzlichst
Angela

Anneliese hat gesagt…

Ein Märchen mit Happy end, doch auch ein wenig
Wehmut dabei, wie das Leben so spielt,
lG Anneliese
PS: Ich freu mich schon auf ein nächstes Märchen